Nordkenia - Eine Hochzeit in Rot

Im Norden Kenias findet man sie noch: beschmückte Krieger die Löwen jagen, perlenübergossene Frauen, mächtige Zauberer und Hexendoktoren. Komplexe Riten stoßen auf moderne Bildung und mischen sich neu ab.
Von Mario Gerth

Ein stumpfer Sonnenstrahl schiebt sich über die östlichen Bergkämme einer weichen Hügelkette, als urplötzlich der Wind seine Kraft verliert, das Gefiedel der Insekten verstummt und Vögel auf den Ästen dorniger Akazien festfrieren. Ein drückendes Schweigen presst sich über die Savanne und alles Leben erstarrt zu einer Momentaufnahme. Dann scheint ein stummer Schrei aus dem Dorf zu brechen, über die Savanne zu schießen, sich in den messerscharfen Dornen zu verhängen, wieder loszureißen, um sich bissig in mein Rückenmark zu krallt. Festgenagelt stehen ein paar Frauen wie Wachsfiguren um ihre Hütten. Ziegen und Rinder verstummen, drängen sich aneinander, bangen. Die Rauchsäule des Feuers ist verblasst. Es scheint, als hole der Morgen ein letztes Mal tief Luft, ehe er zum Tag wird. Und es scheint, als hole Lesara ein letztes Mal tief Luft, ehe sie zur Frau wird.


Dann rückt die Sonne über die Bergrücken und schwämmt ihre volle Lebenskraft über die Dornsavanne Nordkenias. „Lesara hat sich vor die Alte gekniet und ihre Schenkel geöffnet. Nur sie macht Mädchen zu Frauen.“, haucht mir Lukas entgegen. Der Stiel seiner Zahnbürste steckt jetzt regungslos im linken Mundwinkel. Dann laufen wir stumm hinunter in Lenkusakas Dorf.



Ein paar Tage und 26 Kilometer zuvor:
In den verstaubten Gassen von Archers Post klebt der süßliche Geruch von Saroi, der sich hässlich mit überfaulem Gemüse und vergorenem Obst mischt. Tausende von schwarzen Plastiktüten tanzen im backheißen Wind um die rostroten Gewänder der Samburu Krieger. Lukas ist ein langgeschossener Samburu aus der Gegend. Seine Worte sind ein tadelloser Mix aus Britischem, Amerikanischem und Australischem Englisch. Heute arbeitet er im nahe gelegenen Nationalpark.

„Hotels und Park sind geschlossen. Keine Touristen. Seit den heftigen Kämpfen nach den Wahlen im Dezember sind die Betten lehr. Kenia hat seinen Ruf ruiniert. Nun hungern wir, der Preis, das ich zur Mzungu-Schule gegangen bin.“ Dann rückt er sein quittengelbes Fußballhemd mit der Spielernummer 10 zurecht. Ein anderer Krieger sitzt im Schatten einer Akazie und begutachtet in einer Spiegelscherbe seinen Kopfschmuck von aufgesteckten Blüten und aufwendigen Perlenschnüren. Alles läuft zäh und besonnen in Archer´s. Jeder Schritt, jede Entscheidung, jeder Gedanke.  

„Mit der modernen Schule habe ich den Bezug zu meinem Dorf verloren. Ich musste viele Jahre ins Internat, Uniformen tragen, lernte Mzungu-Sprachen und ihre Kulturen. Dabei habe ich meine eigene vergessen. Im Busch ist das Leben anders, so wie das meiner Eltern, meiner Großeltern, meiner Urgroßeltern. Alles was ein Samburu wissen muss, erzählen der Vater und die Mutter in ihren Geschichten. Keine Bücher, keine Stifte.“

Eine steinalte Frau läuft barfüßig und barbrüstig durch den erhitzten Sand und zieht am linken Ohr ein jammerndes Lamm hinter sich her. Auf ihrem Hals ruht ein schwerer Verbund aus Perlenketten. Die leeren Brüste erinnern an die Pendel einer Uhr. Viele Samburus nehmen Tagesmärsche auf sich, um am wöchentlichen Markt in Archer´s zu tauschen. In der linken Hand halten die Krieger ihren Rungu, eine Art Holzknüppel und einen langen Speer. Er ist Zwangsausstattung der Samburus und man sagt, sie würden das Gleichgewicht verlieren ohne ihre Waffen.
„Ich muss mein Brot mit den Weißen verdienen, den Mzungus, den Touristen. Im Busch würde ich versagen. Ich kann bis Eintausend zählen, aber keine Löwen jagen. Mir fehlt die gute Schule meiner Eltern, aber im Herzen bin ich Samburu. Wenn du meine Tradition erleben willst, komm morgen in aller Frühe mit mir, zu einer Hochzeit.“ Dabei schiebt er sich das melonenrote Basecape zurecht, als fühle er sich unwohl in seiner steifen Kleidung ostasiatischer Billigproduktion zwischen den Farbenrausch federgeschmückter Krieger und perlenübergossener Frauen.
„Tief im Busch ist das Leben wie vor Hunderten von Jahren. Ich bin der Brautzeuge, begleite mich. Morgen früh.“ Zusammen schlendern wir über den uringetränkten Boden des Marktes und kaufen die restlichen Hochzeitsgeschenke: 50 Kg Zucker, 4 Kg Tabak, 10 Tüten Tee, Maismehl, eine Zahnbürste.

Es ist drei Uhr am Morgen, als Lukas gegen meine Tür trommelt. Aus dem Mann im Fußballshirt mit der Nummer 10 und senkellosen Turnschuhen ist ein beschmückter Samburu erwacht. Sein Gesicht ist mit tonfarbenem Fett geschminkt. Um den Kopf liegt ein lederner Kranz aus Löwenfell und an Armen und Beinen trägt er Perlen und Schnüre, Ketten und silberne Metallreifen. Im seinem Mund steckt ein Miswakholz, ein Stück Wurzel des Zahnbürstenbaumes. Der Miswak enthält einen hohen Fluoridgehalt und seine fasrig gekauten Hölzer dienen der Mundhygiene in vielen Ländern Afrikas. In den geweiteten Ohren hängen weiße Zylinder aus gebleichtem Elfenbein. Fest umschlossen hält er seinen Rungu und den Speer. Stumm machen wir uns auf den langen Weg in das Dorf Lenkusaka.

Die Samburus sind ein kriegerisches Hirtenvolk, verwandt mit den Maasai. Da sie keinen Ackerbau betreiben, ist die einzige Nahrungsgrundlage das Vieh, das sie mobil weiden. Das gesamte Leben kreist um den Bestand von Rindern und Ziegen, hier, in der immerdurstenden Savanne zwischen Mount Kenia und dem Turkana-See. Sie sind offizielle Währung, Maßstab für Prestige, Nahrung, Opfergaben und Teil der Familie. Die Hauptnahrung ist ein Cocktail-Mix aus angedickter Milch und Rinderblut (Saroi). Aus Wurzeln und Kräutern kochen sie exzellente Suppen.

„Lenkusaka ist heute ein alter Mann, vielleicht 90, vielleicht 100. Sein Dorf liegt tief im Busch und wir müssen vor Sonnenaufgang da sein. Wir müssen uns beeilen.“ Lukas verdoppelt seine Schrittgeschwindigkeit und steigt im Eiltempo über Dornenbüsche, Steine und ausgewaschene Rinnen, die wie graue Schlangen auf dem blutroten Laternitboden schlummern. „Lenkusaka hat vier Frauen, 25 Söhne und Töchter, 96 Enkelkinder. Alle wohnen sie in einem Dorfverbund. Seine letzte Tochter ist gerade einmal zwei Jahre. Lenkusaka bestellt andere Krieger, um mit seinen Frauen zu schlafen. Dafür zahlt er gut: ein Schaf, manchmal zwei. Du weist, seine Lanze ist schwach und faltig. Er ist alt. Aber viele Kinder sind ein Segen. Heute verkauft er eine seiner Töchter, Lesara ist ihr Name, an einen Krieger des Nachbarclans. Dafür bekommt er immerhin elf Rinder. Er ist mächtig. Sehr mächtig. Das macht die Braut teuer. Der mächtigste Mann Nordkenias. Einmal hat ein Adler dem Alten ein Stück Fleisch vom Teller geklaut – er hat ihn nur mit seinem Blick getötet. Bumm! Der Adler ist vom Himmel gefallen. Tod. Mächtig, sag ich dir. Ein Hexendoktor.“ Dann steckt sich Lukas das Miswakholz tief in die Backentaschen, um an seine Weisheitszähne zu kommen.

Langsam belebt sich die Natur und erste Töne und Farben erfrischen die Savanne. Der rostrote Boden ist durchsetzt mit einzelstehenden Akazien und Büschen, die in der Ferne wie feingehackte Petersilie liegen. Auf einem Hügel bleibt Lukas plötzlich stehen und zeigt stumm mit dem Rungu auf ein kleines Dorf, umzäunt mit den dornigen Ästen der Akazie. Lenkusakas Reich, denke ich mir und lasse meine Blicke über sein kleines Imperium gleiten. Schwelendes Feuer steigt wie Säulen aus grauem Marmor empor. Etwa 20 schulterhohe Hütten aus Dung und Ästen knien im Kreis. Dazwischen sitzen ein paar Frauen und im Zentrum liegen die Gehege für Rinder und Ziegen. Über 120 Nachkommen; ein reicher Mann, denke ich bei mir.
„Es ist kurz vor Sonnenaufgang, noch kühl und windig. Das bindet den Schmerz für die Braut. Ihre Zeit ist gekommen, die Zeit der Frauwerdung. Lesara ist 14 Jahre, ein vernünftiges Alter, um Weib und Mutter zu werden. Sie wird nun aus der Hütte geführt und der Alten übergeben. Dann geht alles sehr schnell. Lesara darf nicht wimmern. Das bringt Unglück über ihren Clan. Erst nach der Alten darf die Hochzeit beginnen. Solang müssen wir vor den Toren warten.“ Hektisch wippt der Bürstenstiel zwischen Lukas gepfropften Lippen als ein scharfzüngiger Aufschrei aus der Herde der Ziegen bricht. „Die Tiere kennen das Ritual und wissen um das leise Surren und Summen der Frauen. Sie schließen sich zu engen Pulken zusammen. Schützen sich. Aber eines wird sein Opferblut vergießen müssen. Heute fließt viel Blut – aus dem Hals der Tiere und aus dem Schoß der Braut.“ Der Bürstenstiel schlägt jetzt aus, wie ein Geigerzähler. „Es ist ihre Zeit. Jetzt!“


Sie riecht nach Blut, nach frischem Blut.

Mit uns strömen andere Krieger ins Dorf und wir betreten das Imperium von Lenkusaka. Zusammen mit Lukas begrüße ich Livingstone Lengila, den Bräutigam – ein kräftiger Samburu Mitte Zwanzig aus einem Nachbarclan. Er empfängt uns stumm und stolz, fast ignorant. Aus allen Winkeln der umliegenden Savanne sind Abgesandte und Freunde gekommen. So wird in jedes Dorf die Nachricht weitergegeben, das Livingstone und Lesara ein Paar ist. „Unsere Riten scheinen dir Fremd. Das sehe ich in deinem Herzen. Aber im Grunde sind sie eueren ähnlich. Gleich schlachten wir den stärksten unserer Bullen und verteilen das Fleisch an die Gäste – die Torte. Wie du hörst, singen unsere Krieger und Frauen Lieder, die Alten geben dem jungen Paar Ratschläge mit in ihr neues Leben. Um den Bund der Ehe symbolisch zu schließen, werden jetzt die Kopfhaare des Paares und der Brautzeugen rasiert. Mit Rindermilch und starken Kräutern verbindet sich alles zu einem zähen Brei. Was Gott zusammenfügt, darf nicht wieder getrennt werden. Unsere Ringe.“
Dutzende von jungen Kriegern haben mittlerweile das Dorf erreicht und jungen Frauen haben sich pompös für das Fest geschmückt. Der Event ist eines von wenigen, wo sich Mädchen und Jungen gegenüberstehen, zusammen singen und tanzen. Rund um den Kraal haben sich potente Krieger zusammengeschossen und garnen mit kraftvollen Sprungtänzen und murrenden Gesängen die Jungfrauen ein. Trockener Sand peitscht durch die stampfenden Beine in die verbrannte Luft. Jungen Mädchen erwidern mit schrillen und scharfen Gesängen, die die Stille der Savanne zerbrechen lassen, wie Tonscheiben. Immer wieder bewegen sich die Gruppen aufeinander zu, verharren, drehen wieder ab. Alles erinnern an den typischen Balztanz von Straußen. Für Stunden zelebrieren die jungen Samburus ihre Tänze und beatmen mit ihren bunten Gewändern und Schmuck überzogenen Körpern die Trockensavanne Kenias.

Am späten Nachmittag wird die Braut aus der Hütte geführt und das erste Mal schaue ich Lesara in die Augen, die Augen eines Kindes. Die vergangenen Stunden hat sie im Beisein ihrer Mutter verbracht und viel junges Rinderblut getrunken, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Lahm schleift sich das junge Mädchen über den brühenden Sand, gebeugt wie eine alte Frau die Kohlen schleppt. Wuchtige silberne Armreifen glänzen auf der gebeizten Haut und mehrere Bänder aus farbigen Perlen verlaufen über ihr Gesicht wie Spinnweben. Um den Hals liegt ein drückendes Amulett aus Giraffenhaar, auf dem blutrote Steine funkeln. Zwei ausgeschlagene Schneidezähne hinterlassen ein gähnendes Loch in ihrem Unterkiefer – ein Schönheitssymbol für Männer und Frauen der Samburus. An ihrer Seite hinkt Lenkusaka. Der mächtige Lenkusaka, nur mit einem Tuch um die Hüfe geworfen. Bis auf die Knochen abgemagert, schwach und energielos ringt der Alte nach der heißen, steifen Savannenluft. Wie dünnes Pergament überzieht seine Haut die knochige Figur, durch den der Körper sein müdes Blut pumpt. Er röchelt, hustet, keucht und wirft braunen Schleim aus. „Mächtig. Seine Macht sitzt im Geist, nicht im Körper. Der Mächtigste Mann.“ Und Lukas zeichnet mit seinem Bürstenkopf die fragile Kontur des halbtoten Mannes in die Luft. „Vor ein paar Jahren hat er noch auf dem Rücken von Krokodielen Geige gespielt. Heut ist er müde.“

Lesara trägt einen Umhang aus gegerbtem Löwenfell und eine gefüllte Kalabasch mit Saroi auf dem Rücken. Ihr Körper ist gebeizt mit einer kirschroten Tinktur, vom Scheitel bis zur Sohle. Sie duftet nach Blut, nach frischem Blut. Ihre zusammengekniffenen Augen wimmern. Stumm wird sie von Lukas und Lenkusaka begleitet und schreitet verschmerzt zum Ausgang des Krals. Mit ihnen ist Livingstone, der bis dato noch kein Wort mit seiner Frau gewechselt hat. Ihre Blicke gehen sich aus dem Weg. Beide kennen sich seit wenigen Stunden, denn die Findung des Paares obliegt allein Lenkusaka. Der Weg hinaus aus dem Dorf ist gefegt und aufbereitet wie ein roter Teppich. Es wird das letzte Mal sein, das Lesara den Weg aus ihrem Dorf geht. Mit dem heutigen Tag wird ihr bisheriges Leben Gegenstandslos. Mutter, Vater und Geschwister und Freunde werden Gegenstandslos. Sie muss ihre eigene Familie aufbauen, viele Tagesmärsche von hier, tief in der kenianischen Savanne, zusammen mit einem Fremden, ihrem Gatten.
Stillschweigend schreiten Lesara und Livingstone aus dem Dorf ohne sich ein letztes Mal umzuschauen. Es wäre ein Frevel. Die Alten haben am Ausgang des Krals eine Art Tunnel aus Speeren und Stöcken geformt, durch die das frisch vermählte Paar schreitet. Glück- und Segenswünsche prasseln hernieder. Dann laufen sie hinaus in die offene Savanne. Lukas zieht sich das Miswakholz aus dem Mund und gemeinsam schauen wir den beiden nach, bis die wabernde Hitze das Paar verschluckt. Dann verabschieden wir uns von Lenkusaka. Drei Mal spuckt mir der Alte ins Gesicht. Kakaobrauner, weicher Schleim klebt an meinen Wangen. „Segen. Der Alte mag dich. Er hat dich gesegnet.“


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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